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Anhörung der Volksinitiative für Lernmittelfreiheit und freie Schülerbeförderung in öffentlicher Sitzung des Kultusausschusses im niedersächsischen Landtag am 23.09.2005

Stellungnahme

Herr Vorsitzender, meine verehrten Damen und Herren!

In unserer heutigen Stellungnahme müssen wir nicht mehr auf die kostenlose Schülerbeförderung eingehen. Denn Herr Minister Busemann hat am 15.09.05 im Landtag zugesagt, dass die Landesregierung bei der Schülerbeförderung keine Einschränkungen mehr beabsichtige. Diese Zusage wird von uns Eltern im Land mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen. Die Volksinitiative wertet diese Zusage als einen ersten Erfolg in der Sache, der den 160.000 Unterschriften für die Volksinitiative zu verdanken ist.

In unserer Stellungnahme möchten wir auf die uns bekannten Argumente gegen die Lernmittelfreiheit in Niedersachsen eingehen. Da geht es zum einen um pädagogische Fragen, wie:

Von größerer Bedeutung scheinen aber die finanziellen Argumente gegen die Lernmittelfreiheit zu sein, die auf

Dabei gehen wir bei einer Gesamtschau der vorgebrachten Argumente gegen die Lernmittelfreiheit davon aus, dass der parlamentarische Gesetzgeber die Lernmittelfreiheit allein wegen der pädagogischen Argumente nicht abgeschafft hätte.

Wir werden hier deshalb auf die pädagogischen Argumente nur kurz eingehen, da sie – wie gesagt – vermutlich nicht ausschlaggebend sind. Was wissen wir über die Wertschätzung von Schulbüchern im Zusammenhang mit einer finanziellen Eigenbeteiligung der Eltern? Uns sind keine empirischen Untersuchungen bekannt, die eine signifikante Abhängigkeit der Wertschätzung von Schulbüchern vom Grad der finanziellen Eigenbeteiligung der Eltern festgestellt haben.

Schon vor der Abschaffung der Lernmittelfreiheit mussten Eltern Schulbücher, in die schriftliche Übungen hineinzuschreiben waren, vollständig selbst bezahlen; ebenso Atlanten und Lektüre. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir und unsere Kinder die von uns selbst gekauften Bücher nicht höher wertgeschätzt hätten, als die, die wir im Rahmen der Lernmittelfreiheit bekommen haben. Wertschätzung lebt vom Vorbild. Eine glaubwürdig durch Eltern und Pädagogen vorgelebte Wertschätzung guter Bücher – ganz unabhängig davon, ob man sie selbst kauft oder beispielsweise zum Geburtstag geschenkt bekommt – hat vermutlich doch den größeren Einfluss darauf, in welchem Maße Kinder Bücher wertschätzen und sorgsam behandeln.

An dieser Stelle muss aber auch in Richtung der Schulbuchverlage gesagt werden, dass immer wieder Schulbücher ausgeliefert werden, die so schlecht gebunden sind, dass sie auch bei sorgsamster Behandlung aus dem Leim gehen.

Das Argument, dass es für den Lernerfolg grundsätzlich besser sei, in Schulbücher hineinschreiben zu können, scheint nicht der Grund für die Abschaffung der Lernmittelfreiheit gewesen zu sein, denn auch die gegenwärtige entgeltliche Schulbuchausleihe gibt 90 % der Schülerinnen und Schüler weiterhin keine Möglichkeit, in die entgeltlich ausgeliehenen Schulbücher hinein schreiben zu können..

Ich komme jetzt zu den finanziellen Argumenten, die gegen die Lernmittelfreiheit vorgebracht wurden:

Bürgerinnen und Bürger, die staatliche Kürzungen im Bildungsbereich für kurzsichtig halten, müssen sich zuerst und immer wieder mit dem Argument auseinander setzen,

Welche Argumente lassen sich dagegen vorbringen?

Die parlamentarischen Gesetzgeber haben mit der Steuergesetzgebung die staatliche Einnahmegrundlagen in der Erwartung reduziert, dadurch die Wirtschaftskonjunktur zu begünstigen und bei besserer Konjunktur unterm Strich mehr Steuereinnahmen zu haben.

Bislang scheint diese Rechnung aber nicht aufzugehen. Es wird bei fortlaufender Nettoneuverschuldung immer schwerer, Haushalte nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen aufzustellen. Die parlamentarischen Gesetzgeber nehmen sich also zunehmend die Möglichkeit der Setzung politischer Prioritäten. Dahinter ist die eine politische Priorität längst gesetzt, nämlich der Rückzugs des Staates aus der Daseinsvorsorge.

Wenn Bürgerinnen und Bürger andere politische Priorität setzen wollen als der parlamentarische Gesetzgeber – und gerade dafür sind Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide da, müssen sie die herbeigeführte Sparzwanglogik der parlamentarischen Gesetzgeber hinterfragen.

Dabei fällt auf: Die parlamentarischen Gesetzgeber können trotz Rosskuren die öffentliche Verschuldung nicht zurückführen, sondern müssen weiterhin neue Schulden aufnehmen.

Es fällt weiter auf: Die immensen Zins- und Zinseszinszahlungen sind auf der einen Seite eine bedauerte öffentliche Ausgabe, auf der anderen Seite aber eine willkommene private Einnahme. Wo geht das öffentliche Geld hin? Wer kann mit diesem Geld jenseits der Parlamente politische Prioritäten setzen?

Und schließlich fällt auf: Nicht die gegenwärtigen öffentlichen Zins- und Zinseszinszahlungen werden zum Skandal erklärt, sondern die zukünftigen. Aber künftige Generationen werden wie heutige ganz unterschiedlich davon betroffen sein. Die Einen müssen ihr Letztes geben, weil der Staat sich aus den Bildungsausgaben zurückzieht, die Anderen können wachsende Reserven aufbauen, weil der Staat sich aus den Steuereinnahmen zurückzieht.

Neben der Staatsverschuldung wurde als wichtigstes Argument gegen die Lernmittelfreiheit gesagt, dass sie auch Familien zugute kommt, die darauf nicht im geringsten angewiesen sind. Ich möchte jetzt gerne auf dieses Argument eingehen. Es ist tatsächlich offensichtlich, dass ein Teil der Bevölkerung überhaupt nicht auf die öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen ist. Es gibt Familien, die ohne die geringsten Probleme auf einen kostenlosen Schul- und Hochschulbesuch ihrer Kinder, auf kostenlose Lernmittel, auf kostenlose Schülerbeförderung, auf kostengünstige Kindergärten und auf Kindergeld verzichten könnten. Es sind diese Familien, die immer wieder angeführt werden, wenn der Rückzug des Staates gerechtfertigt werden soll. Betroffen von dem Rückzug sind jedoch alle Familien.

Und ich komme zum entscheidenden Punkt:

All diese neuen und erhöhten Eigenbeteiligungen, Gebühren und Entgelte sind für immer mehr Familien in der Summe nicht mehr tragbar. Bei jeder einzelnen neuen Belastung, gegen die die Familien sich zu Recht empören, wird deren Geringfügigkeit ins Feld geführt. Dagegen muss festgestellt werden, dass die Summe der vielen neuen Belastungen den Familien das Leben schwer macht.

Dagegen wird gesagt, bedürftige Familien sind freigestellt. Wie sieht das in der Praxis aus?

Bei den neuen Gebühren gibt es zwar eine Freigrenze für Bedürftige. Viele Familien werden durch diese Freigrenzen aber nicht geschützt, denn sie liegen knapp - aber nicht ausreichend - darüber. Ihr tatsächlich zur Verfügung stehendes Familieneinkommen kann daher auf das Niveau von Arbeitslosengeld II oder darunter rutschen. Diese Ungerechtigkeit geht zu Lasten des sozialen Zusammenhalts in allen gesellschaftlichen Bereichen, also auch in unseren Schulen.

Die neuen Gebühren und ihre jeweiligen Freigrenzen bringen den Familien, die unter diese Freigrenzen fallen, eine Vielzahl von zeitaufwendigen Bedürftigkeitsprüfungen bei Behörden, Schulen, Schulfördervereinen und anderen Einrichtungen. Eine einzelne Bedürftigkeitsprüfung wird von den Familien und ihren Kindern vielleicht noch als tragbar empfunden. Eine Vielzahl von Bedürftigkeitsprüfungen, die auch noch jährlich zu wiederholen sind, muss aber als entwürdigend empfunden werden.

Unsere Befürchtung ist: Wenn die parlamentarischen Gesetzgeber die Familien weiter belasten, wird der Trend zur Kinderlosigkeit anhalten. Es wird in künftigen Generationen immer weniger Kinder geben, die überhaupt irgendwann irgendetwas mit Zins und Zinseszins zurückbezahlen könnten. Der zunehmende Rückzug des Staates aus der Bildungsfinanzierung führt dazu, dass immer mehr Kinder aus Familien mit knappen Ressourcen nicht ihr volles Leistungspotenzial entfalten können. Es wird daher in künftigen Generationen nicht nur insgesamt weniger Kinder geben, sondern auch weniger Kinder, die es in ihrer Bildung und Berufsausbildung soweit gebracht haben werden, wie es eigentlich ihren Möglichkeiten entspricht.

Die Volksinitiative für Lernmittelfreiheit und freie Schülerbeförderung musste sich verschiedentlich mit der Bitte befassen, sie solle einen Finanzierungsvorschlag für die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit machen. Dafür gibt es verfassungsrechtlich keine Veranlassung, da Vertreterinnen und Vertreter plebiszitärer Gesetzesentwürfe vom Deckungsgebot freigestellt sind, weil sie nicht die Informationsmöglichkeiten besitzen wie sie Abgeordnete, Fraktionen oder Landesregierungen haben. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Antrag der Volksinitiative auf Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit in Niedersachsen lediglich Kosten bedeutet, die 0,1 bis 0,2 Prozent des Gesamthaushaltes ausmachen und daher in jedem Falle zu finanzieren sind.

Es gibt noch eine Argumentation für die Abschaffung der Lernmittelfreiheit, die sowohl pädagogische als auch finanzielle Gründe verbindet, nämlich die Aktualität von Schulbüchern. Hier wird ein Zusammenhang zwischen der Abschaffung der Lernmittelfreiheit und der Erneuerung des Schulbuchbestandes hergestellt. Dieser Zusammenhang wird so beschrieben, dass durch die Abschaffung der Lernmittelfreiheit erst eine Erneuerung des Schulbuchbestandes ermöglicht wurde. Diese Argumentation ist redlich, weil sie im Nachhinein eine eklatante Unterfinanzierung der Lernmittelfreiheit zugibt. Diese Argumentation ist unredlich, weil sie verschweigt, dass man das Budget für die Lernmittelfreiheit längst hätte aufstocken müssen, und auch hätte aufstocken können.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle zur Verdeutlichung eine Analogie: Die Abschaffung der kostenlosen Schülerbeförderung wäre analog damit zu begründen, dass die täglichen Fahrtzeiten für die Schüler wesentlich verkürzt werden könnten, wenn die Eltern ihre Kinder mit dem Pkw zur Schule fahren. Übrigens hat diese Analogie einen realen Kern, da manche Schulträger bereits Schulbusrouten so zusammen legen, dass Fahrtzeiten unzumutbar werden.

Soweit unsere Antworten auf die von den Gegnern der Lernmittelfreiheit vorgebrachten pädagogischen und finanziellen Argumenten.

Es gibt weitere Argumente für die Lernmittelfreiheit. Wieso wurde die Lernmittelfreiheit von den parlamentarischen Gesetzgebern überhaupt eingeführt? Waren die Staatsfinanzen in Deutschland einmal so gut, dass man nicht mehr wusste, wohin mit dem ganzen Geld? Dass man deshalb aus der Not heraus – von schlafenden Rechnungshöfen und Steuerzahlerbünden unbeachtet - die Lernmittelfreiheit für alle einführte? Sicherlich nicht.

Lernmittelfreiheit, kostenlose Schülerbeförderung, gebührenfreier Schul- und Hochschulbesuch sollten die materielle Grundlage bilden für mehr Chancengleichheit in der Bildung und durch die Bildung.

Chancengleichheit war dabei nicht nur aus Gründen sozialer Gerechtigkeit geboten, sondern auch deshalb, weil unsere Gesellschaft auf ihrem Weg zur Wissensgesellschaft immer mehr gut ausgebildete Frauen und Männer brauchte.

Chancengleichheit und die Entfaltung möglichst aller Leistungspotenziale durch das Bildungswesen gingen damals Hand in Hand – und gehen heute Hand in Hand. Gegen die Chancengleichheit und gegen die Entfaltung aller Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder gab es schon immer Widerstände von denen, deren Kinder auf dem Weg zur Chancengleichheit scheinbar Privilegien verlieren könnten. (Und manchmal gehört man vielleicht selbst dazu, ohne sich dessen bewusst zu sein.)

Die internationalen empirischen Schuluntersuchungen geben Hinweise darauf, dass sich in Deutschland der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg stärker darstellt als in anderen vergleichbaren Ländern. Damit kann sich niemand zufrieden geben, denn es bleibt schließlich eine soziale Ungerechtigkeit und eine unnötige Verschwendung von Fähigkeiten und Motivationen unserer Kinder.

Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit verschlechtert die Chancengleichheit und die Entfaltung aller Potenziale, weil die weitere Privatisierung der Bildung von vielen Familien nicht zu tragen ist, und weil nur aus diesem Grunde wieder vermehrt Jugendliche nach der 9. oder 10. Klasse die allgemein bildenden Schulen verlassen werden, obwohl sie das Zeug und die Motivation hätten, weiter zu lernen, weiter zu kommen.

Ich möchte zur Begründung der Notwendigkeit einer Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit auch und insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention „Übereinkunft über die Rechte des Kindes“ vom 20.11.1989 anführen, die am 26.01.1990 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet wurde und am 05.04.1992 in Kraft trat (Bekanntmachung vom 10.07.1992, BGBl II S. 990).

Im Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention „Recht auf Bildung“ heißt es:

„(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an; um die Verwirklichung dieses Rechts auf der Grundlage der Chancengleichheit fortschreitend zu erreichen, werden sie insbesondere

(a) den Besuch der Grundschule für alle zur Pflicht und unentgeltlich machen;

(b) die Entwicklung verschiedener Formen der weiterführenden Schulen allgemein bildender und berufsbildender Art fördern, sie allen Kinder verfügbar und zugänglich machen und geeignete Maßnahmen wie die Einführung der Unentgeltlichkeit und die Bereitstellung finanzieller Unterstützung bei Bedürftigkeit treffen;

(c) allen entsprechend ihren Fähigkeiten den Zugang zu den Hochschulen mit allen geeigneten Mitteln zu ermöglichen...“

Hier finden sich Argumente als Menschenrecht formuliert, die gegen einen Rückzug des Staates aus der Bildungsfinanzierung sprechen. Hat man den internationalen Vergleich vor Augen, so ist der andauernde Hinweis auf die mangelnden finanziellen Möglichkeiten noch schwerer nachzuvollziehen. Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland gehört zu den wirtschaftsstärksten im internationalen Vergleich. Wenn schon hier eine wirkliche Unentgeltlichkeit der Schulpflichtjahre nicht möglich sein soll, wo denn dann überhaupt? An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Abschaffung der Lernmittelfreiheit in Niedersachsen nur geringe Kosteneinsparungen in der Höhe von unter 0,1 Prozent des Gesamthaushaltes erbracht hat. Dies steht nicht im Verhältnis zur Bedeutung der Lernmittelfreiheit im Zusammenhang mit der als Kinder- und Menschenrecht gefassten Unentgeltlichkeit des Schulbesuchs.

Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit wird in der Öffentlichkeit auch als ein „Schulgeld durch die Hintertür“ oder ein „heimliches Schulgeld“ wahrgenommen. Es stellt sich also die Frage, ob Unentgeltlichkeit des Schulbesuchs bei Abschaffung der Lernmittelfreiheit überhaupt noch gegeben sein kann.

Die UN-Kinderrechtskonvention wird überwacht vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mit Sitz in Genf. Vorsitzender dieses Ausschusses ist der Niederländer Jacob Egbert Doek. Prof. Dr. Doek stellte in einer E-Mail vom 19.07.04 auf Anfrage der Volksinitiative für Lernmittelfreiheit und freie Schülerbeförderung klar:

Zitat „Die Position des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes ist klar und eindeutig. Die UN-Kinderrechtskonvention besagt, dass der Besuch im Primarschulwesen unentgeltlich sein soll. Das bedeutet nicht nur, dass es kein Schulgeld geben soll, sondern auch, dass Eltern nicht mit anderen Kosten belastet werden, wie Schulbücher, weitere Lernmittel, Schuluniformen, Schülerbeförderung etc. (...) Was das Sekundarschulwesen anbetrifft setzt die UN-Kinderrechtskonvention das Ziel, auch den Besuch dieser Schulen im eben genannten Sinne unentgeltlich zu machen. Insbesondere die reichen Länder werden regelmäßig ermutigt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen“ Zitat Ende (Übersetzung aus dem Englischen)

Der Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, Prof. Dr. Doek, schließt seine Nachricht mit den Worten: „Good luck with your efforts to make education really free.“ (Viel Glück in Ihrem Bemühen, Bildung wirklich frei zu machen.)

Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit – das liegt in der Natur der Sache – trifft nur Bürgerinnen und Bürger, die Kinder haben oder Kinder haben werden. Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit hat den Status quo des Familienlastenausgleichs zu Ungunsten der Familien verändert. Es gibt viele Bürgerinnen und Bürger, die keine Kinder bekommen wollen oder können, und sich trotzdem - oder gerade deshalb - sehr an den Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft erfreuen. Die Kinder sind nicht nur die Zukunft ihrer Eltern, sondern die Zukunft der ganzen Gesellschaft. Der gegenwärtige Familienlastenausgleich war schon vor Abschaffung der Lernmittelfreiheit ungenügend. Der Familienlastenausgleich muss verbessert und nicht verschlechtert werden, denn sonst ist der Trend zur Kinderlosigkeit nicht aufzuhalten. Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit bedeutet eindeutig eine Verschlechterung des Familienlastenausgleichs, also eine Schlechterstellung der Eltern gegenüber den Nichteltern.

Die Landesregierung hat auf dem Erlasswege für Familien mit drei oder mehr Kindern im Rahmen der entgeltlichen Ausleihe von Lernmitteln einen Ausgleich geschaffen, der für diese Familien die zusätzlichen Familienbelastungen abmildert. Im Runderlass „Entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln“ des Kultusministeriums vom 11.03.05 heißt es unter Punkt 4: „Bei Familien mit drei oder mehr schulpflichtigen Kinder sollen für jedes Kind nur 80 Prozent des von der jeweiligen Schule festgesetzten Entgelts für die Ausleihe erhoben werden.“ Diese Regelung kommt allen Familien mit drei oder mehr schulpflichtigen Kindern, die sich am entgeltlichen Schulbuchausleihverfahren beteiligen, zugute. Dafür werden unseres Wissens den Schulen keine Landesmittel im Rahmen der entgeltlichen Schulbuchausleihe zugewiesen. Das bedeutet: Allein die Eltern mit ein oder zwei schulpflichtigen Kindern zahlen den Kinderrabatt für die Eltern mit drei oder mehr schulpflichtigen Kindern. Ist das der Einstieg in einen Paradigmenwechsel beim Familienlastenausgleich? Kleine Familien zahlen für große?

Geht man von einer landesdurchschnittlichen Ausleihgebühr von 39 Euro pro schulpflichtigem Kind pro Schuljahr aus, beträgt die 20-prozentige Entlastung für Familien mit drei oder mehr schulpflichtigen Kindern 7,80 Euro pro schulpflichtigem Kind. Geht man von 100000 schulpflichtigen Kindern aus, die zwei oder mehr schulpflichtige Geschwister haben, hätten wir durch den Dreikinderplus-Rabatt eine Entlastung von insgesamt 780000 Euro. Wir gehen davon aus, dass dieses Geld umgehend und rückwirkend den Schulen im Rahmen der entgeltlichen Schulbuchausleihe durch das Land zu erstatten ist.

In jedem Fall aber steht der Dreikinderplus-Rabatt von schätzungsweise 780000 Euro in keinem Verhältnis zu der neuen Belastungen, die die Landesregierung mit etwa 44 Millionen Euro für zusätzlich durch die Eltern privat zu finanzierende Lernmittel pro Schuljahr angibt.

Schon vor der Abschaffung der Lernmittelfreiheit haben die Eltern schulpflichtiger Kinder freiwillig und ehrenamtlich den Rückzug des Staates und der Kommunen aus der Bildungsfinanzierung zu kompensieren versucht. Zu nennen sind Schulfördervereine, Essensausgabe, Schulbüchereien, Arbeitsgemeinschaften, Sponsorenläufe, Klassenrenovierungen, Schulhofgestaltungen, EDV-Ausstattung und vieles andere mehr. Je konstruktiver Eltern sich gegenüber den öffentlichen Einsparungen an den Schulen verhalten, desto mehr scheinen das Land und die Schulträger sich ermutigt zu fühlen, weitere Kürzungen, Eigenbeteiligungen, Entgelte und Gebühren zu erfinden.

Wenn die parlamentarischen Gesetzgeber anderer Bundesländer an der Lernmittelfreiheit festhalten können, muss dies auch für Niedersachsen möglich sein. Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Bremen, Hessen, Sachsen und Baden-Württemberg halten an der Lernmittelfreiheit fest. Rechtsauseinandersetzungen und Boykotts gegen Schulbuchgebühren werden aktuell aus Thüringen und Hamburg gemeldet. In weiteren Bundesländern stehen parlamentarische Initiativen zur Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit auf den Tagesordnungen.

Zum Schluss unserer Stellungnahme appellieren wir an Sie als niedersächsische Landesgesetzgeber: Führen Sie die Lernmittelfreiheit in Niedersachsen zum nächsten Schuljahr 2006/2007 wieder ein!

Vielen Dank.

Ulf Riebau

Sprecher der Volksinitiative für Lernmittelfreiheit und freie Schülerbeförderung


www.uri-text.de | Oldenburg (Oldb) | 2005-09-23